Kunsterlebnis

Das FITZ Stuttgart, die Schaubude Berlin und der Westflügel Leipzig haben assoziierte Künstler*innen, Mitarbeitende und Publikum nach einem persönlichen, berührenden Kunsterlebnis gefragt und veröffentlichten im Dezember 2020 täglich die Antworten, die hier in Deutsch und Englisch, als Text-, Audio- oder Videobotschaft, Fotografie oder Zeichnung gesammelt sind.

Samira Wenzel | 33, Figurenspielerin; Leipzig

Charlotte Wilde | 49, Musikerin; Leipzig

In der Aufführung eines Kinderstücks, gespielt von einem Figurenspieler und drei Musikern, der Saal war voll mit sonntäglich gestimmten Familien. Auf der Bühne: geistreicher Witz, verrückte, fantasievolle Figuren, wunderbar lustige Lieder, Humor und Klamauk, kurz: ein großer schöner Spaß von vier Männern im besten Alter für ein fröhlich mitgehendes Publikum. Mittendrin, plötzlich, ein Lied, bei dem mir das Herz aufging und meine Fassung schmolz und wegschwamm:

Schau dir die Sonne an, ist sie nicht schön?

Warum? Ich kann nur einkreisen, mich anpirschen an das, was passierte:

Der Sänger sang von der Schönheit, von der Hoffnung, von der Liebe. Und die Art, wie er das tat, erzählte von der Verletzlichkeit des liebenden Menschen, er schaute uns an und wir schauten wie in ihn hinein, sahen, was er mit Musik malte und wurden schwerelos. Er erzählte von der Möglichkeit, das Schöne und Gute tief zu fühlen. Und dass, und wie er das für Kinder tat, als ein Erwachsener, der vieles über Sorgen, Nöte und Ängste weiß und vieles über das Schlechte und Böse, und trotzdem von der unendlich schönen Liebe singt, das hat mich berührt.

Das Stück heißt „Eine Blumengeschichte“, von Christoph Bochdansky und den Strottern.

Eine Ahnung von meinem musikalischen Theatererlebnis kann man auf dem YouTube-Kanal der Strottern bekommen.

Katja Freistedt | Architektin; Leipzig

Ich möchte Euch über ein Kunsterlebnis berichten, das mich berührt hat. Es war das Mittsommerspiel an der Waldorfschule gespielt von der 4. Klassen der Schule in Leipzig im letzten Jahr. Instrumentale Musik und Eurythmie, sowie Wortwitz und Schabernack und die Naturgeister im Schauspiel werden zu einem Gesamtkunstwerk verwoben, das jedes Jahr aufs Neue kleine und große Zuschauer zutiefst ergreift, wie auch mich:Wir befinden uns in der ländlichen Natur zur Mittagszeit am Johannitag mitten im lebendigen, fruchtbaren Sommer, an den längsten Tagen des Jahres, mitten in der Sonnenfreude. Im Vorspiel im Gespräch zwischen Vater und Tochter erlebt der Vater die vitalen Kräfte, die sich hinter der äußeren Natur wie in Traumbildern verbergen. Nach einem lustigen Auftakt durch die Mücken und die Unken – kommt Pan, der „Vater“ die verschiedenen Naturwesen zu sich ruft. Er lässt sie berichten, was sie über das Jahr für Natur und Mensch geschaffen haben. Als schließlich nach vielen kleinen, teils sehr witzigen Wesen Frösche, Unken, Sylfen, Nixen, die besonders frechen Faune und Elementarwesen des Feuer und der Erde alle versammelt sind, erhebt sich mit der Musik ein heller Chor zum Himmel, der mit den Worten endet :

Horchet, horcht dem Weltenton,
der euch eure Wege weißt:
lauschend lobt der Sonne Geist.

Dann folgt der Auftakt der Mücken nach Goethes Spruch im Takt:

Wir Mücken entschweben
den Grüften und leben
in Lüften,
um uns zu entzücken
im Glanze der Sonne,
im Tanze voll Wonne.
Wir Mücken sind Geister,
erkoren vom Meister
um Toren, die überall Lücken
und Schwächen entdecken,
zu stechen, zu necken!

Und weiter geht’s in diesem vitalen kraftvollen Ton meist chorisch gesungen oder gesprochen von den Kindergruppen begleitet von Musik. Und die Personage mit zirka 10-12 Kindern pro Gruppe! Das Gewirbel der Sylfen und Gesumme der Mücken, die Nixen, das Quaken der Frösche, die Rhythmen der Zwerge geschlagen mit Stöcken, das flatternde Rennen der Flammen in Rot. Ein Gewirbel – eine Freude! Und die Musikanten! Eine Fülle. Und Pan als ruhige Kraft inmitten von Allem.

So was Schönes habe ich noch nie erlebt! Zum Heulen schön war das! Ich konnte mich kaum beherrschen…

Der Text des Spiels ist nachzulesen unter Mittsommerspiel – Jahreszeitenfeste an der Waldorfschule.

Barbara Wilde | 47, Psychologin; Eutin

Als ich nach Dresden zog sagte mir eine Freundin: Am Totensonntag zieht man in Dresden seinen schwarzen Mantel an und geht in die Kreuzkirche zum Brahmsrequiem.
Das Brahmsrequiem. Mit der wunderbaren Arie, die auch unsere Mutter so liebte:

Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.

Ich hab das einige Jahre so gehalten. Und in meinem letzten Jahr in Dresden hatte ich es auch geschafft, mich so rechtzeitig zu kümmern, dass ich eine Karte unten im Mittelschiff hatte. Und als ich da saß, in dieser schönen schlichten Kirche und inmitten dieser großen Klänge, da war es plötzlich so, als hätte ich es schon geschafft, als hätte ich wirklich das Ziel schon erreicht!

Anna Kaleri | 46, Autorin; Leipzig

Einige offenbarende Momente erlebte ich in der Bildenden Kunst. Nicht nur dort. Sehr einprägsam war eine Ausstellung zur Moderne in der Neuen Nationalgalerie. Ein Bild hätte ich damals nur aus den Augenwinkeln gestreift, hätte der Audioguide nicht aufgefordert, stehen zu bleiben und ihn, also dieses Gerät, für eine Weile abzustellen. Da stand ich also vor einem Bild mit zwei Farbfeldern, weich abgegrenzt durch eine dicke Linie und unter der Stille der Kopfhörer begann mit einem Mal Leben in die Flächen zu kommen. Sie atmeten.

Dieses Bild von Mark Rothko legte bei mir einen Zugang zu abstrakter Malerei. In Schönheit und Einfachheit und Tiefe einer Meditation. Eine gefühlt doppelte Ewigkeit ist das her.

Matthias Schiffner | 62, Öffentlichkeitsarbeiter; Leipzig

Stadtmusik

Zwei Stunden, die noch 42 Jahre später nachhallen. Du gehst durch die Innenstadt deines Heimatortes (hier Bielefeld), die Obernstraße entlang zum Alten Markt, zur Altstädter Nicoliakirche, zum Theater. Fußgängerzone. Klangzone. Wo du auch stehst Rhythmen in der Luft, wohin du auch gehst, eine singende klingende Traumzauberstadt. Ein Käfigwagen wie eine mobile Gefängniszelle zieht vorbei, eng besetzt mit dem Klagegesang von Menschen aus einer anderen Zeit, anderem Raum, schockierend kostümiert und geschminkt, in endloser Langsamkeit gezogen von vier Narren, ein einzelnes Konsumentenpaar mit Einkaufsbeuteln und plärrendem Transistorradio, zwei geschäftige Musikarbeiter in Schweißermontur, die auf Metall einhämmern, ein Chor von mittelalten Männern, die auf Glockenschlag sich auf den Balkon in höchster Höhe drängeln und dadaistische Wortbrocken aus sich heraus wälzen. Und und und. Wohin du auch gehst, eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden, du entkommst dem Klang nicht, der Musik, dem szenisch-akustischen Gewusel, das die komplette Innenstadt belegt, den Klängen, die den Stadtraum in geformte, rhythmische Sphärenmusik verwandelt, und wo sie verebbt, setzt sie am nächsten Häusereck von Neuem ein, nur anders. Jeder Ton komponiert, allerdings auf der Grundlage eines einzigen Akkords, der in unendlichen Variationen einen Klang auch im Innern erzeugt, der dich nicht mehr loslässt. Der sich mit dir verbindet und dich mit der Welt – alle Sinne bis zum Gehtnichtmehr gespreizt, sperrangelweit geöffnet. Die Welt als Rausch und Klang und hymnische Feier ans Dasein, auf dass du nie wieder die Augen, Ohren, Häute verschließen kannst vor dem Reichtum um dich herum. Der auch – in irgendeinem Hinterhof – nichts weiter ist als zarter einstimmiger Gesang, vibrierend, nachhallend auf dem Grund deiner Seele.

Eine Vermählung der Welt mit dir. Die anhält, auch 42 Jahre danach.

zu: Stadtmusik. Ein musikalisch-szenisches Perpetuum Mobile für die Bielefelder Altstadt (1978) von Harald Weiss, UA 09. Juni 1978 mit über 300 Beteiligten Künstler*innen.

Ellen Holland-Moritz | Leipzig

»Scholz Notizen I«
Oper Leipzig, Juni 2004

Ich hatte bereits einige Choreografien und Ballette von Uwe Scholz gesehen und wollte mehr. Umso schöner, dass die Oper Leipzig für Juni 2004 die Premiere der »Scholz Notizen I« angekündigt hatte.

Der Kritiker der LVZ monierte nach der Premiere, dass der Choreograph offensichtlich kein komplettes Werk mehr zustande brächte, nun würde der »Zettelkasten« auf die Bühne geworfen. Einige Abende später saß ich im Opernhaus. Der Abendsegen aus Humperdincks »Hänsel und Gretel«, »Isoldes Tod« von Richard Wagner, inszeniert auf der Piazza in Venedig, getanzt von Christoph Böhm und Sibylle Naundorf, die Händel-Arie »Care s elve, ombre beate« aus »Atalanta« (Solo von Kiyoko Kimura), dazwischen wie eingestreut Gedichte von Rilke

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so
deutlich aus…

– die Trauer, die in alledem steckte, traf mich mit Wucht.

Ich bestaunte – wieder einmal – die unglaubliche Musikalität von Uwe Scholz, seine, wie ich finde, einmalige Fähigkeit, die Partitur via Tanz, Bewegung, Choreografie sichtbar zu machen und so dem Zuschauer ein tiefes Verständnis des zugrundeliegen Musikstücks zu geben – insbesondre in den »Notations I – IV« von Pierre Boulez oder dem Solo »Speaking in Tongues I«. Aber in allen Stücken dieses Ballett-Abends waren eine große Traurigkeit, ein Gefühl der Ausweglosigkeit, der Trostlosigkeit greifbar. Ich bewunderte Uwe Scholz dafür, in seiner Kunst so nahbar zu sein und für seinen Mut, sich als so verletzlich zu offenbaren.
Berührt und betroffen fuhr ich zurück nach Hause.

Uwe Scholz wolle in der folgenden Spielzeit ein Sabbatical nehmen, gab die Oper Leipzig bekannt.

Am 21. November 2004 starb Uwe Scholz in Berlin.

Dana Ersing | 35, Projektmanagerin u.v.m.; Leipzig

2006, ich bin vor Kurzem nach Leipzig gezogen und verbringe einen Abend in Jim Whitings berühmt berüchtigten Bimbotown.

An der Kasse vorbei durch die Tür betrete ich eine Utopie, die ich mir in meinen Träumen nicht fantastischer hätte ausmalen können, mir stockt der Atem und ein Glücksgefühl durchströmt mich.

Im Nachhinein betrachtet wurde mir in diesem Moment klar, dass Kunst alles kann und es keine Grenzen gibt.

Leider gibt es Bimbotown mittlerweile nicht mehr.

Sandra Brose | Leipzig

Johann Kresniks: »Goya«
Volksbühne Berlin, ca. 1995
Ich bin 15 Jahre alt

Bis heute sehe ich die Körper (Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne) ich atme den Tanzboden, fühle die Brutalität, höre Äxte schlagen, sehe blauen Nebel – so viel Blut. Überall Haare und Holz…

Nach dieser rauschhaften Ergriffenheit, einer Begegnung mit Anderweltlichkeit werde ich immer wieder suchen. Ich wusste: ich brauche Kunst zum Leben. Sie (er)nährt mich und erzählt mir alles über das Menschsein.

Christian Bollow | 56, PR-Referent FITZ; Stuttgart

Stammeln und Dank.

Anders wieder fortgehen. Auf der Spur meiner noch nicht gestellten Frage, deren Antwort die Kunst mich hat erleben lassen. Immer die Ahnung eines mir unerreichbaren und doch eigenen Gedankensystems. Verwandtschaft muss sein, Übereinstimmung, Vorsprung. Oft die Fassungslosigkeit vor dem Mut, das auszudrücken. Wie Rilke über Rodin gesagt hat: Sich so weit hinaus zu wagen! Wie kommt man da wieder zurück?

Nach Jahrzehnten prägnant in Erinnerung: Frank Soehnles »Nachtgesichter«, das Panoptikum einer hypnotisch geschlossenen Welt. Kein Wort, stattdessen Rhythmus, Dunkel, Halbdunkel, Spot. Dämonen, bedrohlich, amoralisch und doch nicht – böse. Ein Albtraum am Rande des Aufwachens. So weit hinein…

Oder Antje Töpfers Vorstudie zu »…des Glückes Unterpfand« – das war wie ein Erdstoß: Welche Hintergründe tun sich plötzlich auf in dieser menschlich gefüllten formalen Strenge?!

Es sind so viele: Christoph Bochdanskys geistvoll-ernste, skurrile Frotteewelten, Charlotte Wildes unfassliche musikalische Räume, die eigenwillige Syntax der Inszenierungen des O-Teams, deren Text-Bild-Konstellationen gleichzeitig so spröde und einladend sind, Tristan Vogts hingegebenes, meisterhaftes Objektspiel für Vierjährige »Was Sachen so machen«…

Anders wieder fortgehen, ist Glück.

Wenn all diese Kunsterlebnisse etwas gemeinsam haben, dann ist es das Stammeln im Augenblick danach, die Echos und Resonanzen in den folgenden Tagen (und Nächten), und schließlich – der Dank.

Susann Tamoszus | 55, Theaterpädagogin; Berlin

Eine relativ lange Warteschlange vor dem Centre Georges Pompidou in Paris im März 2016. An der Fassade die Ankündigung einer Retrospektive von Anselm Kiefer. Ich kenne einige seiner großformatigen Bilder und seine Bleibibliothek aus dem Hamburger Bahnhof. Ich entschließe mich zu warten und fahre 30 Minuten später die gläsernen Rolltreppen an der Außenfassade der »Beaubourg« hinauf in das obere Stockwerk.

Der Titel der Retrospektive »Bleischwere Kunst« verweist auf das zu Erwartende. Man begegnet dem Werk des Künstlers in dieser Ausstellung auf vielfältige Weise: Bekannte symbolhafte und verschlüsselte Werke, die auf religiöse wie auf zeitgeschichtliche (Kriegs-)Ereignisse Bezug nehmen, vornehmlich der deutschen Geschichte. Begegnet einer Sammlung von Exponaten, Vitrinen und Bildern, die von innerer und äußerer Zerstörung und Verwüstung handeln, von sich immer wiederholender Geschichte, von Ende und Anfang zugleich. Blickt in menschliche Abgründe ebenso wie auf trostlose Landschaften. Oft sind archaische Objekte Bedeutungsträger, Originalmaterial und Dinge, die geschichtlich aufgeladen sind. Ich gehe durch viele Räume hindurch, nehme mir Zeit, die selten gezeigten Vitrinen zu betrachten, deren Inhalt, die morbide Schönheit des Zerfalls.

Fast am Ende der Ausstellung werden die Räume wieder größer und lichter und raumfüllende großformatige Bilder erwarten die Besucher. Räume voller Stille. Plötzlich schießen mir die Tränen in die Augen vor einem Bild: ein riesiges vertrocknetes Sonnenblumenfeld auf verbrannter Erde – ich lasse es geschehen … Überforderung, Teilhabe daran, dass es künstlerisch möglich ist, in so vielgestaltiger Form von Leid zu erzählen, Kunst, die mich berührt und verstört und Anstoß gibt, nicht gleichgültig zu werden. Für mich braucht es wahrscheinlich gerade jetzt diese physische Form der Trauer. Eine emotionale Momentaufnahme.

Etwas verwirrt und überwältigt sitze ich noch eine Weile im Foyer der Ausstellung, dann finde ich zum Ausgang. Und mit seltsam schwerem Gemütszustand auf den Platz de Pompidou tretend dringt erst nach und nach wieder der Vorfrühling der Stadt zu mir vor.

Christoph Bochdansky | 60, Figurenspieler; Wien

Ich möchte hier von einem Moment erzählen, der mir nicht unter dem goldenen Tor eines großartigen Eindrucks begegnet ist, sondern an einer schäbigen Hintertüre und mich erst lange nach dem Verlassen des Theaters beeindruckt hat.

Ein schäbiges, abgespieltes, vergessenes Kellertheater in Wien, die Aufführung sollte um 20:00 beginnen, mit Verspätung kam der angekündigte Künstler mit dem Taxi im Theater an und bat uns mit in den Saal zu kommen, das Publikum bestand aus 7 Personen. Er erzählte Begebenheiten aus seinem Leben und Beobachtungen über dies und das, es war mitunter recht amüsant, aber viel zu lang. Die ganze Aufführung spielte er auf einem Sessel sitzend, der links hinten auf der Bühne stand, Bühne und Zuschauerraum waren gleichmäßig mit schummrigen Neonleuchten beleuchtet. Während der Aufführung verließen 4 Personen das Theater. Am Ende stand er von seinem Sessel auf, kündigte an er würde jetzt so tun, als würde er kurz die Bühne verlassen und gleich wieder kommen, was aber nicht geschehen würde, wir sollten daher nicht klatschen, wenn er jetzt geht. Mit leicht erhobener Faust ging er dann und sagte:

Es lebe die Avantgarde.

Diese rätselhaften Worte, am Ende einer solchen Aufführung, haben mich bis heute sehr beeindruckt.

Julia* Pogerth | 67, neugierige Müßiggängerin*; Stuttgart

Ich gebe es ja nicht gern zu, aber ein allererstes einschneidendes und entschieden beeindruckendes Erlebnis im Zusammenhang mit einer Figurentheateraufführung hatte ich tatsächlich bei einer Vorstellung meines Lieblingsfeindes aus alten Tagen.

Da war eine Puppe auf der Bühne, ein Mädchen im Teenageralter, das ausgesprochen zugewandt und vertrauensvoll am Bein des Puppenspielenden zupfte. Ein faszinierender und gleichzeitig irritierender Moment. In dem Augenblick habe ich kapiert, dass da verschiedene Ebenen sind, die aneinanderstossen. Und dass das richtig krachen kann und sich dabei Spalten auftun, die den Betrachter anzuziehen vermögen, ihn eintauchen lassen in atemberaubende, vielfältige, phantastische, ungeheuerliche Zwischenwelten. Die alle im Kopf des Zuschauers wirklich werden.

Die ganze Tragweite habe ich damals freilich noch nicht begriffen. Aber das Phänomen wurde mit der Zeit immer deutlicher. Es begegnet mir regelmäßig bei herausragenden Inszenierungen und bei unterschiedlichen Künstlern* (auf die ich mich heutzutage konzentrieren darf). Reibung zwischen Puppe und Spielenden, zwischen Musik und Geräusch und Aktion und Text und Lüge und Wahrheit. Überall Gletscherspalten, in die mensch abgleiten kann. Und es ist vergnüglich und wunderbar und reich und gefährlich und immer anders. Unerschöpflich. Möchte es nicht missen.

Cora Sachs | 34, Regisseurin, Kostüm- und Figurenbildnerin; Hamburg

Kunst berührt?

Was für eine Frage! Ein kulturelles Erlebnis, das mich berührt, bewegt, erschüttert hat …

In meinem Leben gab es immer wieder Momente, an denen es mich durchzuckt hat beim »Erleben« von Kunst. Schon als kleines Kind. Es sind diese Momente, die sich eingraben und die ich wieder hervorholen kann, als Trostspender, Motivator oder einfach nur zum Freuen. Aber ein bestimmtes auswählen? Das fällt mir wahrlich schwer. Vielleicht bin ich in der Kunst gelandet, weil ich diese Momente so liebe und sammele wie Kleinode?

In meiner eigenen Profession Theater schaffe ich es leider immer weniger, mich einfach beim Zugucken treiben zu lassen. Da ploppen dann immer wieder in meinem Kopf technische Fragen auf: Oh, wie haben die das jetzt gemacht? Aus welchem Material ist der Puppenkopf? Aha, super Bühnentechnik etc. und stören das Genießen und Aufnehmen.

Ich probiere es jetzt einfach mal mit ein paar besonders eindrücklichen Momenten:

Musik: Der Moment, wenn ein Orchester mit dem Stimmen anfängt, macht mir jedes Mal eine Gänsehaut. Beim ersten Mal war ich in der Grundschule und meine Eltern haben mich zum Schleswig-Holstein-Musikfestival mitgenommen. Wo und was gespielt wurde, weiß ich nicht mehr. Aber das Orchester, dieses dynamisch lebendige riesige Etwas, hat mich zwei Stunden lang gebannt und sprachlos gefesselt.

Tanz: Ich saß im Tanzgeschichte-Seminar während meines Regiestudiums und uns wurde »Café Müller« von Pina Bausch vorgestellt. So pur, so schön, so einzigartig!

Malerei: Die Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle 2007 von Helene Schjerfbeck hat mich so fasziniert, dass ich mehrmals dort war. Besonders ihr Spätwerk mit den Selbstportraits kurz vor ihrem Tod hat mich gefesselt.

Performance: Der Film »The Artist Is Present« von Marina Abramovic. Ich saß Weihnachten 2012 am Vormittag alleine im Abaton Kino in Hamburg und mir liefen die Tränen über die Wangen. Das allein der Blick so intensiv und persönlich über eine Kinoleinwand erfahrbar war, hat mich tief berührt und lange nicht losgelassen.

Jonas Klinkenberg | 35, Projektmanager und Archivar; Leipzig

Christiane Zanger | 60, Figurentheaterregisseurin, Stuttgart

Kunsterlebnis schafft Kunsterlebnis

1969 spielte uns Viertklässlern ein Junge aus der Zehnten etwas aus einer Bach-Suite auf dem Cello vor.
Ich war so begeistert, dass ich meine Eltern lange belagerte, bis ich selber Cellostunden bekam. Daraus folgte viel – Leidenschaft und Irrtum, Hoffnung und Heimat in der Musik.

Einundfünfzig Jahre später fragt mich ein Siebtklässler der Johannes Kullen Schule in Korntal nach einem Theaterprojekt, an dem mein kleines Reise-Cello beteiligt war:

Kannst du auch etwas Schnelles spielen?

Puh! Lange nicht geübt, nur dies Schülerinstrument halber Größe zur Hand…also gut! Ich spiele ihm das G-dur Präludium von Bach. Er lauscht gebannt. Das Cello im Blick, murmelt er nach dem letzten Akkord:

Ich bin verliebt.

El Cuco Projekt | Berlin/Köln

El Cuco Projekt experiments with articulating Choreography and Visual Arts in a creative autonomous combination. With animal masks, our human bodies in movement generate dissimilar characters. They become sculptures, paintings and cartoons at the same time: they are simultanously animal, human and thing.

Hedda Kage | 79 Jahre, Dramaturgin; Berlin

Von Nils Holgersson nach Sibirien und zurück

Ich kenne das Künstlerduo Wilde&Vogel noch aus Stuttgarter Zeiten, als beide, das musikalische Mädchenwunder Charlotte und der Figurenzauberer Michael, sich zu einem kreativen Nucleus Wilde&Vogel zusammenfanden, aus dem sich inzwischen die internationale Räume füllende und Welt umgreifende Künstlerfamilie – mit eigenem Stammhaus im Leipziger Westflügel Lindenfels -entwickelt hat. Ich darf mich zu den ältesten Bewunderern und Freunden ihrer besonderen Kunst der Verwandlung zählen und sitze jedes Mal aufgeregt und mit dem Lampenfieber wie vor einer Uraufführung im Saal, auch wenn es sich um die 25. Vorstellung handelt. Denn ich wünsche mir das Ur-Erlebnis zurück, das für mich damals im FITZ den Schleier gelüftet, die Sinne geöffnet hat für das Gesamtkunstwerk des Figurentheaters. Es war gar nicht die Premiere, sondern eine spätere Vorstellung von »Nils Holgersson«, die mich abheben ließ in den von Charlotte eröffneten Klangweltraum, durch den Michaels »Figur« mich den »Traum vom Fliegen« nachholen ließ, den ich nie geträumt hatte. Ur- Erlebnisse kann man nicht beschreiben, sie sind aus dem undefinierbaren Traumstoff gemacht, der eine Sehnsuchtserinnerung hinterlässt. Nach diesem Erlebnis wollten mir die leidenschaftlich geführten ideologischen Schlachten um den Begriff »Puppentheater / Obekttheater/ Figurentheater« geradezu lächerlich erscheinen. Ich hatte auf der kleinen Welttheaterbühne des FITZ leibhaftig erfahren, was mir diese Kunstform bedeuten sollte und wonach ich mich nun immer wieder sehnen würde. In vielen weiteren wunderbaren, mit anderen Spielern und Musikern entwickelten Inszenierungen von Wilde & Vogel oder auch in Gastspielen großer internationaler Kollegen ist etwas von dieser totalen Verzauberung des Ur-Erlebnisses in mir wach geworden. Aber so dicht dran an der Auflösung, am Grenzenlosen war ich dann erst wieder in »Sibirien«. Nur Charlotte und Michael in eisig trostloser Einsamkeit. Wer sich zu Recht vor unserer Pandemie fürchtet, der sollte seine Furcht mit dem Besuch dieser Aufführung bekämpfen. Dafür müsste auch der Westflügel Lindenfels seine Türe wieder öffnen dürfen.

Iris Meinhardt | Figurenspielerin, Regisseurin; Stuttgart

Anke Nicolai | 44, Produzentin und Live-Sprecherin für Audiodeskription

Ingrid Exo | 57, Übersetzerin, passionierte Bilderguckerin und großer Fan von Fotografie; Leipzig

Sascha Kühne | Student für Bühnenbild und Regie an der AK Stuttgart

Beim Betrachten der Kunst von Roberto L. Delgado

Martina Schnabel | 74, im Ruhestand; Berlin

Kunst – Erlebnisse – Sekunden – Glück – Gänsehaut – Momente

Künste unterschiedlichen Genres faszinierten mich in verschiedenen Altersphasen unterschiedlich stark und tun dies noch immer.

In meiner Kindheit war es der volle Bücherschrank meiner Eltern, der mich an die reiche, vielfältige Welt der Literatur heranführte. Das Erlernen eines Instruments, Hausmusik und das besondere Erlebnis des Chorgesangs brachten mir die klassische Musik nahe. Diese kulturelle Prägung begleitet mich bis heute.
Meine Jugendjahre verbrachte ich (gefühlt) im Theater. Oper, Schauspiel, Operette, Ballett – das war alles meins. Damals spielten für mich die Darsteller*innen, Sänger*innen, Tänzer*innen eine große Rolle, ihre Stimmen, ihre Ausstrahlung, ihr Spiel, ihr Können. Auch ihretwegen liebte ich das Theater.

Später fand ich im Theater der großen Regisseur*innen neben der Musik und der Bühnenliteratur besonders aufregend die Bilder, die sie mir schenkten und die in mir blieben. Unvergessen zum Beispiel »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« (Siegfried Matthus), umstrittene Berghaus-Inszenierung, dennoch in der Semperoper Dresden uraufgeführt, eine Bühne voller verstörender Bilder, das Drehkreuz, hindurch gehen wieder und wieder Soldaten und Offiziere, das riesige Bett, die Frauen ganz in Weiß, nicht enden wollend das „Schneien“ blutroter Blütenblätter … der wunderbare, stimmstarke Chor, unsichtbar … a-capella-Gedankenstimmen … Unvergessen.

Viel später die Satire »Murx ihn, den Europäer! … Murx ihn ab!«, kurz nach der Wende von Marthaler auf die Bretter der Berliner Volksbühne gebracht! Neben all den Glanzpunkten dieser Kult-Inszenierung ist mir ein Moment in bleibender Erinnerung: Da ist dieser große alte Kohle-Heizkessel, eine Klappe wird geöffnet, lodernd brennt das Feuer im Ofen … daraus klingt wie von fern der Gesang eines gewaltigen Chores: russische und deutsche Revolutions- und Arbeiterlieder … bis die Klappe abrupt geschlossen wird. Ein »Gänsehaut«-Moment.

Auch im Theater der Dinge, Figuren und Objekte sind es immer wieder die Bilder, die mich faszinieren. Bilder … so noch nie gedacht, noch nie gesehen … erstehen vor mir, entstehen in mir, bleiben bei mir, herbeigezaubert durch das artifizielle Talent und Können der Regisseur*innen, Spieler*innen und Puppenbauer*innen, durch ihre Phantasie und das Vermögen, ihre Gedanken mit Materialien verschiedenster Art zu neuem Ausdruck zu verschmelzen und starke Emotionen in mir zum Klingen zu bringen.

Eine Momentaufnahme hat sich eingebrannt: »Kinder der Bestie«, Teatron Theater und figuren theater tübingen. Aus der Erde, aus dem Sand, in dem sie einst vergraben wurden, erheben sich im Holocaust Ermordete, Sand rinnt ihnen aus Augen und Mündern … erschütternd. Ich vergaß, dass es Puppen sind. Aber dieses Bild kann ich nicht vergessen, geschaffen von Frank Soehnle, dessen skurrile Figuren von ihm selbst virtuos bewegt werden.

Dunkelheit – Schatten – Tod – so viele Tote, ihre Reihe schier unendlich, Sterbende und Tote wieder und wieder, langsam nehmen sie ihren Weg über den Styx ins Totenreich. Strenge Szenerie, düstere, erregende Musik … den Bildern der Aufführung »Wrota« (Das Tor) von Scena Plastyczna konnte man sich nicht entziehen. Nie vorher oder danach habe ich das Ende einer Vorstellung so erlebt: Stille – niemand kommt, um sich zu verbeugen. Tot, alle tot … Beim Verlassen des Saales ein Schock: Da liegen sie, die Toten, nackt und bloß, unter dem gläsernen Boden, über den man gehen muss. Kaum wage ich aufzutreten. Meine Gedanken gehen zu meinen Ahnen, zu den Generationen von Toten, die unter uns liegen. Auch über mich wird das Leben hinweggehen.

Ganz anders die Figuren- und Bildschöpfungen einer Mo Bunte (kranewit Theater). Aus Fundstücken vom Wegesrand kreierte sie ihre Figuren und Masken. Ich erinnere mich an »Das verwaiste Kind«, eigentlich ein Sterntaler-Märchen, hier eine Fluchtgeschichte. Als sie eine kleine Eisenbahn, aus alten Kisten zusammengefügt, über die Bühne schiebt, entstehen in mir plötzlich jene berührenden Bilder, die Brecht in seinem Gedicht vom Kreuzzug der Kinder beschreibt – imaginiert mit ein paar rohen Brettern …

So viele außergewöhnliche Menschen, Künstler*innen, die ich kennenlernen durfte, wären noch zu nennen, so viele Glücksmomente, die mir durch die Künste zuteilwurden, die mein Leben bereicherten, meinem Denken und Empfinden neue Facetten hinzufügten! Durch Literatur, Musik und Theater wurden mir auf intensive Weise Bilder geschenkt – schöne und schreckliche, vor allem unvergessliche.
Kunst – sie kann unser Herz berühren, unsere Seele erschüttern, unsere Gedanken klären, unser Menschsein auf die Probe stellen … Sie kann uns Schmerz und Freude bereiten, uns glücklich machen. Was wäre denn unser Leben ohne die Künste, ohne Kultur? Arm, unvorstellbar arm.

November 2020

Michael Vogel | 50, Figurenspieler; Leipzig

Barbara Wiche | 59, Kunstgenießerin; Stuttgart

Beim Schauen von Andrè & Dorine vom Kulunka Teatro

Auf der Bühne zwei Menschen mit starren Masken und ohne Stimme,
Alltagsgeräusche in einem ganz normalen Wohnzimmer.
Ich kann lachen und Vergleiche zu meinem Alltag ziehen. Doch dann –
wendet sich alles.
Dorine benimmt sich seltsam, findet sich nicht mehr zurecht und hat einiges
vergessen. Später sogar, wie sie ihr so geliebtes Cello spielen
kann. Ab da, kann ich nur noch weinen.
Was geschieht denn hier mit mir?
Ich fühle meine Ängste vor einer Veränderung, meiner manchmal
auftretenden Vergesslichkeit (Stress?), vor Krankheit und Einsamkeit.
Vor dem Verlust meiner Beziehungen zum Partner, den Kindern und
Freunden. Auf der Bühne bemühen sich André und der Sohn um Dorine.
Gibt es Hoffnung? Ach bei dieser Krankheit?
Ich fühle mich zwischen Verzweiflung und Hoffnung hin und her gerissen.
Es ist die Kunst des Kulunka-Ensembles, ohne Mimik und Worte diese
Gefühle alle in mir aus dem Unterbewusstsein zu holen.
Auch jetzt, beim Erinnern, habe ich wieder diese Gefühle alle in mir.
Ich denke oft an dieses Stück und versuche, auch in hoffnungslosen
Situationen, mir Hoffnung aus meinem Umfeld zu holen.
Das spüre ich gerade jetzt, während der Corona-Zeit. Da ist auch das
»kleinste« Kunsterlebnis für mich eine Hoffnung!

Marianne Fritz | 67, Erzählerin und Bildende Künstlerin; Magdeburg

Zeichnung auf China-Papier nach »JOE 5« von Duda Paiva Company, Niederlande − gesehen online beim Festival »Theater der Dinge 2020, Künstliche Körper«.

Kai Chun | 27, Dancer/Choreographer; Linz

For me, all theatre arts such as dance, drama, music, puppet show, etc… It will not be a single of art. This fusion of multiple art performances constantly stimulates our senses. Maybe we will be attracted by the superb dance skills, but what touches me is the relationship between the performer and the work itself.

Oct 2015 I watched the work »May B« from Maguy Marin (1951) at the National Theater of Taiwan. I will not talk much about the content of the piece itself here. After five years, I still remember the complicated feelings after the performance. Don’t get me wrong no matter how you feel from the art you only need to be honest to yourself and think about it.

Maguy Marin grasped every detail and timing of the work very accurately so that the audience had enough time to imagine for themselves and come back to the theatre. She combines literary and philosophical texts and uses music carefully (hearing sense). The sincerity and truthfulness of the dancers impressed me the most.

I often think about how much training and life experience it takes to become a performer before I can find my self-worth and maturely interpret the concept of role or creator. During the performance of »May B« many moments make me feel my sore nose, sigh, tearing up, laugh.

What I feel is not only the characters/story in work but also the identities of the dancers themselves, so in addition to performing, they are also telling their own stories and facing the various forms of community building, conflict and opposition, and the pursuit of loss. I felt they are negotiating with the work in the performance. As a performer and choreographer, I always think that if you can freely shuttle between characters and individuals, then you must be in the moment believe in performing and who you are.

»May B« is a very mature and complete work with strong theatre characteristics and clear structure. It uses movements to tell the story. Every dancer’s movements have their internal rhythm.

It would be impossible for me to say only one moment moved me by art, but it is delighted to be able to feel art and create and share art.

Gerda Knoche | 28, Figurenspielerin; Leipzig/Stuttgart

Ludomir Franczak | 46, Artist; Lublin/Poland

thank you for the proposition. it made me think of different experiences, that i’ve been through – an art that made this deep impression on me and of course i could bring up few things – like Forced Entertainment shows or Silver Mount Zion concerts, or Aby Warburg Mnemosyne seen live, but i do think that all this is a mix of the art itself and our knowledge and expectations at the very moment that we see/hear/feel it. so i do not think that this kind of experience is something that you can share with anyone. The moment you describe it, it suddenly becomes something ordinary. you realize that it was special then, but it is often nomore, and that somehow it is too personal to share it, especially in such an impersonal medium as the internet. this is exactly what art tries to create – an immersive feeling, a certain kind of connection between art/artist and the viewer. i find it hard to transpose through the internet somehow. still trying to find a good way to build this kind of relation, though. i think that sound helps a lot, so maybe a sound experience is best to include. but then when i think of it, i realize that the most remembered (maybe because it was most recent) experience for me was at Athens during Easter 2019, when i heard the bells ringing in the city throughout the whole day, and when i went to the cemetery and heard an orchestra playing. i could imagine a small soundwork that tells about this experience along with an instruction of how to listen to it, but then it would be a cultural experience since the bells are rather part of religious celebration than the art-world.

Kerstin Herrlich | 62, Galeristin; Leipzig

Durch meine Tätigkeit im Westflügel und in anderen Theatern/ Kultureinrichtungen habe ich schon viele interessante (schöne, berührende, nachdenklich machende) Kunsterlebnisse gehabt.

Ein Erlebnis war aber besonders einprägend, da es sehr schön und unerwartet war – das Konzert im Westflügel mit Steve Nieve.

Ich weiß nicht mehr genau wann das war – 2015? – es war ein Gastspiel – zusätzlich zum regulären Spielplan. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht an den Teamsitzungen beteiligt war, hatte ich Entstehung und die Vorbereitungen zu diesem Konzert nicht mitbekommen – lediglich die Ankündigung auf Facebook.

Mir sagte weder der Name Steve Nieve noch Elvis Costello etwas und der Beitrag auf Facebook war für mich nicht sonderlich aufschlussreich bzw. habe ich ihn nicht genügend beachtet.

Umso überraschter war ich, als ich in den Westflügel kam und im Saal stand ein Steinway-Flügel (ich hatte kurz zuvor eine Führung in der Spinnerei organisiert und dabei auch Station im Klavierhaus Fiech (Steinwayvertretung) gemacht und kannte daher den Wert eines solchen Instrumentes) – meine erste Reaktion – wow – wie hat man den in die erste Etage gebracht…

Die Besucherresonanz auf dieses Konzert war sehr schlecht – Michael Vogel war sehr besorgt, ob Steve das Konzert überhaupt vor so einer kleinen Besucherzahl spielt – wir waren ca. 15 Gäste – aber er spielte und wie! – und das Konzert war so fantastisch. Teilweise sehr besinnliche Stücke, die sich aber sehr oft steigerten. Man hatte das Gefühl, dass er mit dem Instrument verwachsen ist gleichzeitig aber auch die Besorgnis, dass er den Flügel zerstört. Ich war so begeistert – ich weiß nicht wie lange das Konzert ging – ich hatte völlig das Zeitgefühl verloren – es hätte noch ewig gehen können.

Auch nach dem Konzert war der tolle Moment für mich noch nicht vorbei. Steve Nieve und Jim Whiting standen dann noch auf (einen?) Whisky an der Bar und auch Steve (der ja normalerweise in überfüllten Konzerthallen spielt) war von dem Konzert begeistert – er erklärte, dass es für ihn ein besonderes Gefühl gewesen sei, wie eine Art Wohnzimmerkonzert in einem so tollen großen Saal. Die Begeisterung der Zuhörer hat sich somit auch auf ihn übertragen, was für mich wieder sehr schön war zu hören.

Mir hat es einmal mehr gezeigt, wie wichtig es ist, Kunst live zu erleben. Eine digitale Vorstellung kann nie das Erlebnis, den Energieaustausch zwischen Künstler und Besucher und auch zwischen den Besuchern ersetzen.

Ich wünsche mir bald wieder Normalität und nochmal ein Konzert mit Steve Nieve.

Sylvia Winkler | Bildende Künstlerin; Stuttgart

Inspiration:
»Wenn wir tanzen, summt die Welt«
monsun.theater und Cora Sachs

Stella Cristofolini | 50, Kulturwissenschaftlerin/Künstlerin; Berlin/Ruhrpott

Ein Kunsterlebnis, das ich bislang nicht vergessen habe: Im Winter 1991/92 habe ich mich mit meinem Vater in Prag getroffen (er ist dort geboren, mein Großvater war Bühnenmeister im Ständetheater). Es war kalt, nebelig und trübe. An einem Abend besuchten wir ein Konzert in der Philharmonie, es wurde natürlich Dvořák gespielt. Wir kamen recht spät und setzten uns eilig auf Holzstühle auf der Empore. Das Licht ging aus, das Orchester hob an, die Musik ertönte ─ und erschlug mich wie eine riesige Welle, die mich verschlang und mitzog ─ ich hab nur noch geheult. Da die Holzstühle wie irre knarrten und knarzten, habe ich mich während des gesamten Konzertes nicht bewegt. Stocksteif saß ich da, im wahrsten Sinne des Wortes auf einer Arschbacke, und flennte. Ich war einfach überwältigt …

Renate Klett | 73, Theater- und Tanzkritikerin; Berlin

Da ich ein langes Theaterschau-Leben hinter und hoffentlich weiterhin auch vor mir habe, kenne ich das Herzflimmern bei dem einen unbeschreiblichen Moment, in dem sich alles verdichtet, recht gut. Die Auslese fällt schwer, aber beim Nachdenken darüber habe ich mich für zwei Momente entschieden, die gut miteinander korrespondieren.

Einmal die Schlussszene von Ariane Mnouchkines »L’Age d’Or« in der Cartoucherie, ca. 1972.

Der marokkanische Bauarbeiter Abdullah, verführt durch die 100-Franc-Prämie des Vorarbeiters, steigt auf das auf das ungesicherte Baugerüst, beugt sich vor und fällt hinab. Beim Sturz, der in Zeitlupe gezeigt wird, zieht sein karges Leben an ihm vorbei, und er sieht seine Heimat:

Et voilà le Maroc! Ma femme! Mes enfants!

schreit er und freut sich so sehr, sie zu sehen. Und er stürzt und stürzt und freut sich und freut sich. Schon wenn ich das jetzt schreibe, krieg ich wieder Gänsehaut.

Der zweite Moment ist aus Peter Steins »Drei Schwestern«- Inszenierung an der Berliner Schaubühne 1984. Jutta Lampe als Mascha steht an die Zimmertür gelehnt und macht ihrem Herzen Luft. All die Verachtung für ihren Mann und ihre Liebe zu Werschinin bricht aus ihr heraus, während sie ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter, an der Tür heruntergleitet. Da war es so still im Saal, das man glaubte, alle 600 Herzen gleichzeitig schlagen zu hören, während sie jeden Zuschauer mitnimmt in ihre Stunde der Wahrheit. Unvergeßlich!

Und weil aller guten Dinge drei sind, muss auch noch Pina Bausch in ihrer Choreografie von Café Müller erwähnt werden, wie sie zwischen den Stühlen umherirrt. Sie kann nicht mal fallen oder sinken, nur sich ergeben. 

Drei Menschen, die sich wider Willen fügen, dem Schicksal und dem Leben.

Theater ist dann am größten, wenn es die Verzweiflung aufzeigt, die Akteure und Publikum verbindet.

Renata Stromberger | 49, Erzieherin; Stuttgart

Eine Momentaufnahme

Ein lauwarmer Maiabend. Schnell laufe ich die Tübinger Straße runter, zwei schwere Einkaufstaschen in jeder Hand. Mein Vater hätte gesagt, dass ich wie eine Kuh mit der Glocke renne, aber das passt nicht zu der urbanen Umgebung. Viel mehr ähnele ich einem gut programmierten Roboter, der nüchtern und effizient seinen Alltagskram erledigt. Es bleibt noch viel zu tun. Ich hab’s eilig!

Kurz vor der Kreuzung mit der Christophstraße bleibe ich dennoch wie vom Blitz getroffen stehen. Denn das, was ich da sehe, stellt mich und mein ganzes eiliges Tun augenblicklich in Frage.

Ein Tanz nicht aus dieser Welt. Langsam, wie in der Zeitlupe bewegen sich zwei Körper an einem Ort, der für Beschleunigung und Hektik steht, auch wenn man hier das Tempo schon beträchtlich reduziert hat, es Fußgängern und Radfahrern angepasst hat. Die erste emotionale Reaktion eines Autofahrers, der hier nicht nur mit Schrittgeschwindigkeit kriechen, sondern jetzt auch noch anhalten muss, zeigt ganz deutlich, dass das hier nicht hingehört, dieser geisterhafte und keine Notiz von der Außenwelt nehmende Tanz.

Jetzt blende auch ich, die sich noch vor ein paar Sekunden wie der ungeduldige Autofahrer unbedingt fortbewegen wollte, Fahrzeuge und Passanten, Straßencafés und Geschäfte aus. Und sehe nur dieser bizarren Szene zu: Eine Umarmung zwischen einem jungen Mann und einer seltsam geschrumpften alten Frau – zärtlich, achtsam, auf einander zugehend, horchend, schweigend. Zwei Menschen. Oder nicht? Der Eine aus Fleisch und Blut. Und der Andere irritierend realistisch, doch nach genauem Hinsehen offenbar kein Echter, sondern eine Puppe aus Stoff, Silikon und Plastik. Kein Echter?

Was bewegt die Puppe? Wenn sie nicht weniger lebendig als ihr Tanzpartner – Mensch wirkt, dann frage ich mich, wer unter uns wirklich zu den Toten und wer zu den Lebenden gehört. Ich zum Beispiel war doch noch vor ein paar Minuten in meinem algorithmischen Modus tot. Vielleicht wurde auch der Spieler, den wir so selbstverständlich für lebendig halten, von der Puppe, der scheinbar toten Materie zum Leben erweckt?

Mir werden Kopfhörer gereicht. Ohne viel nachzudenken setze ich sie auf, und die Welle nimmt mich jetzt ganz mit. Eine ältere Frau beantwortet Fragen über den letzten Übergang, der ihr bevorsteht.

Schon als Kind mochte ich alte Frauen. Wir lebten mit meiner Großmutter zusammen, ihre Freundinnen und Verwandten, die Großtanten begegneten mir alltäglich. Meistens waren sie gesprächig. Aber manchmal saß man nur so da und schelte kiloweise Äpfel für Apfelmus, oder drehte Bettwäsche durch die Mangel. Und schwieg gemeinsam.

Der Dialog vom Band hat etwas davon. Er ist nicht eilig, Stille wiegt hier ebenso viel wie Worte. Die Gefragte schweigt, atmet. Erst dann erzählt sie von ruhigen Wellen. Das innere Auge der Frau schweift über das Meereswasser, und jetzt sehe auch ich, wie jedes einzelne Tröpfchen atmet, und durch unzählig viele solche Atemzüge unzählig viele Wellen entstehen. Ich atme mit. Die Frau sagt, diese Wellen werden sie einmal mitnehmen.

Die Grenzen verschieben sich, die Wellen werden größer. Ich lasse mich zu einem kleinen dance macabre in meinem Inneren mitreißen. Und dann bemerke ich viele andere Tanzpaare um mich herum.

Inspiration:
Atempause / Reprendre son souffle (DE)
Performance im öffentlichen Raum, Julika Mayer Marionnette contemporaine, Stuttgart/Strasbourg

Melanie Florschütz | 53, Theatermacherin; Berlin

Ich weiß nicht genau, wie alt ich war. Es war im Deutschunterricht, vielleicht in der 7. oder 8. Klasse. Der Lehrer gab uns ein Gedicht. Ich erinnere mich nicht, von wem es war. Ich sah das weiße Blatt Papier vor mir und sah darauf die Anordnung der Worte. Allein diese Anordnung wirkte ungewohnt. Es war ein Gedicht, das sich nicht an Regeln und Kommata hielt, sich nicht reimte und keinen einzigen zusammenhängenden Satz von sich gab. Doch jedes einzelne Wort hatte eine wirkliche Macht, sprang mir entgegen, verband sich mit anderen Worten in anderen Zeilen, schwirrte selbständig in meinem Kopf herum, um sich mit Farben, Geschmack und Gerüchen zu vermischen. Die Wörter taten, was sie wollten, hielten sich nicht an Regeln. Sie hörten nicht auf, immer Neues zu erzählen, obwohl es immer nur diese eine bestimmte Anzahl Wörter blieben. Ich war einfach nur geflasht.

Das ist Lyrik

sagte der Lehrer.

Es gab also eine Parallelwelt, von der ich bisher nichts wusste. In der durften alle Regeln über den Haufen geschmissen werden, um zu zaubern.

Ich war zwischen 12 und 14 Jahren. Ich schaute Regionalfernsehen, nachmittags, im 3. Programm. Ich sah lichtdurchflutete helle Innenräume von zeltartigen Hütten, in denen sonst nichts weiter war. Die Räume waren aus hellem Stoff, in dem sich das Sonnenlicht sanft brach. Es war irgendwie draußen und irgendwie drinnen. Eine Frau führte durch die Räume und sah glücklich aus. Im Bericht wurde gesagt, dass das die Arbeit einer Künstlerin sei. Ich war vollkommen baff. Ich hatte keine Ahnung, was Künstler*innen machen. Solche schönen Räume nur für sich. Ohne Sinn und Zweck. In denen man einfach nur glücklich sein konnte. Die Räume selbst schienen mir die Verkörperung des Glücklichseins zu sein, außerhalb von Zeit und Raum, fast wie eine verlängerte Kindheit der schönsten Momente. Eine vollkommen neue Perspektive auf die Berufswelt tat sich mir auf. Glücklichsein wäre auch möglich.

Li Kemme | 31, Figurenspieler*in; Stuttgart

Anja Abele | Media Artist, Lehrerin für bildende Kunst; Stuttgart

Magische Momente

Sebastian Köthe | 31, Kulturwissenschaftler; Berlin

dass es noch ein bisschen weitergeht.

Berlinale, Friedrichstadtpalast, alles voll. Schwarze Leinwand, eine Stimme erzählt auf Ungarisch die berühmte Geschichte von Nietzsche und dem Pferd. Nietzsche, der bekanntermaßen von Mitleid nicht viel hielt, beobachtet, wie ein Kutscher in Turin sein bockiges, vielleicht auch nur müdes Pferd peitscht. Nietzsche schreitet ein, umarmt das Pferd, weint. Dann fällt er in eine elf Jahre währende geistige Umnachtung, ehe er seine obligatorischen letzten Worte sagt – »Mutter, ich bin dumm« – und stirbt.

Was folgt, ist nicht die Geschichte Nietzsches, sondern die des Pferdes. Hypnotische Musik, eine lange Plansequenz, Tanz des Auges mit der Welt, das Pferd zieht den Kutscher heim. Der Trab auf der Erde immer schwerer, der Herbstwind kalt, der Kutscher grimmig. Wie unendlich schön ist das, und gleichzeitig wie verflucht anstrengend. Dass überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts. Das Nichts lässt allerdings nicht zu lang auf sich warten.

Im »Turiner Pferd« geht Tag für Tag die Welt ein Stückchen unter. Die Holzwürmer verstummen, der Brunnen versiegt, der Wind hört auf zu wehen. Das Pferd verlässt den Stall nicht mehr, der Kutscher versucht, mit seiner Tochter zu fliehen, doch sie kehren um. Wir wissen nicht warum, und vielleicht ist das besser. In unzählige Schichten eingemummelt bleiben sie in ihrer Hütte. Sie hören auf zu essen, das Licht geht aus, sie bleiben stur am Tisch sitzen, fin.

Ein paar Tage später, immer noch Berlinale, sehe ich den Film noch einmal im Arsenal. Eine Sondervorführung, alle wollen diesen Film sehen, weil keiner, der ihn gesehen hat, etwas darüber zu sagen weiß, außer, dass man das gesehen haben muss. Ich wusste nicht, dass ein ganzes Kino 150 Minuten lang den Atem anhalten kann, aber es geht. Ohne Atem, aber mit großen Augen. Der ganze Körper Auge und Pulsschlag.

Ein unversöhnlicher Film über das Ende aller Dinge, und alles, was man will, ist, dass es noch ein bisschen weitergeht.

Ari Teperberg | 31, Independent Maker, Opera director, Performer; Tel Aviv

In a moment of luck and good instincts, just as Israel was entering another lockdown, I managed to escape to Berlin for three weeks and was granted a bubble of sanity within this difficult time of the pandemic.

I felt like a refugee, people were asking me how I managed to even travel.

I was slowly being regenerated by the wonders of meeting people outdoors, and of art institutions being still open! I could go to museums and galleries, attend concerts and watch opera. It was inconceivable for someone coming from a place where all of the above were completely extinct (except for several small attempts).

One of the days I went to see a small, more experimental production at the Deutsche Oper in Berlin, an opera house which I never visit, as I never find special interest in their bigger productions. This project was called “Waldesruh”.

I didn’t know much about it. I think it was on for only 8 shows. I didn’t recognize the director’s name (Anne-Sophie Mahler), nor did I any of the singers’. I understood perhaps 40 percent of the text, but gathered it was about trees, agronomy, roots, etc. it seemed interesting, even if a bit over theatrical for this kind of material. The musical numbers between the text parts were mainly lieder – Schubert, Schumann, Mendelssohn. They were nice, and incorporated some electronics which were mainly annoying.

All in all it was a nice »out of the box« project, which is refreshing in the opera world, but not anything too exciting or interesting compared to non-opera contemporary stage works. It was in the direction of being good (documentary text, classical repertoire with interesting space decisions etc.), but still I wasn’t really moved by anything. Not truly.

But then, after fabrics were stretched above our heads (which was quite expected – they were visibly folded from the beginning; the kind of element you know will have to be used before the show ends) – a grand piano was rolled into the room, a pianist entered, and time froze.

I knew there was going to be music by Morton Feldman, but didn’t expect an entire piece of his to be played.

I have literally no idea how long it was. It felt like an eternity. I think it was more than an hour in the real world, just this piece, and it was after at least one hour and a half of the rest of the show, plus intermission.

But the inside experience of this time for me was – please don’t end. It was the softest, gentlest, abstract and nuanced mix of sounds. So unplugged, so virtuosic in its attentive gentleness. A man with ears, fingers and a piano.

There were no proper seats, and we were given blankets in the intermission. A beautiful abstract video work was projected on the stretched fabrics above (how rare it is to like video on stage!), so I naturally slowly began to sink and down, and just lay on the platform to better experience what was happening.

I didn’t know how long it was going to last! It was breaking the rules of the short energetic numbers that came before, and It took me a long time to trust that I can really let go. But I was given this time, and that was a huge gift. As it went on I admired the makers for this radical decision: Softness. Time. Abstraction. I wished it would never end.

Something within me was unwinding, melting. It was like not just my heart, but everything around it stood still. It felt almost, dare I say, healing.

I would never have listened on my own to this piece (Triadic Memories), on Youtube or anything like that, certainly not with this attentiveness. I tried to listen to some Feldman before, but couldn’t hear anything among the open tabs and jumping text messages.

I thank everyone involved in this piece, and this unbelievable pianist (Stefan Wirth) for being brave enough to make me spend an eternity within these sounds; like stones in a river, where you can only be in one place at one time. And in the silence you wait until the right moment arrives and you move to the next one.